Seiten

Dienstag, 29. Januar 2013

Du siehst mitgenommen aus. Doch keiner da, der dich mitnimmt; außer dem Wind und deinem Rad.

 Superheld
Es war das traurigste, was er seit langem gesehen hatte. Es war ein ganz normaler Montagmorgen gewesen. Er war grade mit der U-Bahn unterwegs ins Büro, als sich an der Station Kreuzberg wie immer die Türen öffneten. Er achtete nicht auf die Personen, die ein- und ausstiegen. Wozu auch. Sie interessierten ihn nicht. Er schaute auf sein Handy, versuchte krampfhaft den Highscore bei Doodle Jump zu brechen und scheiterte jedesmal aufs Neue. Als sich die Bahn schließlich mit einem Rucken wieder in Bewegung setzte, stopfte er das Handy entnervt zurück in seine Hosentasche.
Als er aufblickte, regestrierte er komischerweise zuerst das halb leere Abteil. Das war seltsam für diese Tageszeit. Acht Uhr morgens. Die Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit. Die Straßen waren voll. Die Gehsteige waren voll. Die U-Bahn war voll. Gerammelt voll sogar. Doch heute war es, als würden die Menschen seinen Waggon meiden.
Erst dann bemerkte er sie. Sie saß ihm schräg gegenüber; die Sitze links und rechts neben ihr waren frei. Die Leuten mieden nicht den Waggon; nein sie mieden sie. Er musterte sie. Sie war vielleicht Mitte Zwanzig. Ihre Haare waren dunkelblond. Oder hellbraun. Er war ein Kerl. Er hatte keine Ahnung von sowas. Sie war schlank. Lange Beine. Die Zehen in den hellen Sandalen waren lackiert. Rosa. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt. Sie weinte. Lautlos. Doch man konnte die Schluchzer ihrem bebenden Rücken entnehmen. Der Boden zwischen ihren Füßen war nass. Draußen schien die Sonne. Tropf. Tropf. Tropf. Er zählte die Tränen. Eins, zwei, drei, vierundzwanzig, achtunddreißig, fünfundsiebzig, siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig. Bei hundert hörte er auf zu zählen. Sie war traurig.
Doch das traurigste an ihr war das weiße Brautkleid. Lang und fließend fiel es ihr um die Knöchel. Es hatte Rüschen und Spitzen und Perlen und Puffärmel und den ganzen Schnick Schnack. Vielleicht hatte es auch nichts davon. Er war ein Kerl. Er hatte keine Ahnung von sowas.
Er starrte sie weiter an. Mittlerweile waren alle Leute aus ihrem Abteil ausgestiegen. Er beobachtete die Menschen auf den Bahnsteigen. Sie hasteten, geschäftig wie jeden Morgen, auf die Türen der U-Bahn zu, doch sobald sie einen Blick hinein warfen, machten sie auf dem Absatz kehrt und quetschten sich in das überfüllte Abteil nebenan. Sobald sie einen Blick auf sie warfen.
Er dachte nach. Er strenget sich wirklich an. Er wusste, dass er ein Taschentuch in der linken Hosentasche hatte. Oder in der rechten. Auf jeden Fall hatte er eins. Sie saß ihm quasi gegenüber. Ein Schritt. Der Sitz neben ihr war frei. Beide Sitze. Ein Wort. Vielleicht nichtmal das. Nur da sitzen. Und das Taschentuch. Besser nicht anfassen. Oder doch? Wollten Frauen von völlig fremden Männern  in der U-bahn umarmt werden? Nein! Wollten weinende Frauen in weißen Hochzeitskleidern von fremden Männern in der U-Bahn umarmt werden? Er wusste es nicht.
Potsdamer Platz. Er stand auf. Betätigte den Türöffner. Stieg aus. Als die Türen sich wieder hinter ihm schlossen, hörte er sie laut aufschluchzen. Er hätte sie ansprechen sollen. Aber er war ein Kerl. Er hatte keine Ahnung von sowas. Es war halt nicht jeder ein Superheld.


Die Überschrift stammt aus dem Lied Superman von Tonbandgerät. Falls es jemanden interessiert.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Gib deinen Senf dazu!